Seit 2016 bin ich “nebenbei” Dozentin an einer virtuellen Hochschule – aus voller Leidenschaft. Und das an einer rein virtuellen Hochschule. Konkret dem Austrian Institut of Management, einem Bereich der FH Burgenland in Österreich. Ich wurde immer wieder gefragt, wie denn “meine” virtuellen Vorlesungen aussehen bzw. funktionieren.
“Meine” heutige virtuelle Hochschule ist gefühlt das Gegenteil meines Studiums an der Fernuni Hagen vor vielen Jahren. Wir haben feste Vorlesungszeiten am Dienstag und Donnerstag Abend. Die Vorlesung findet immer live statt und wird aufgezeichnet. Und zwar für alle, die nicht live dabei sein können (oder wollen).
Wie läuft eine virtuelle Vorlesung ab?
Der Screenshot lässt es schon erahnen: Wir treffen uns in einem virtuellen Gebäude, bewegen uns als Avatare durch die Flure und den Fahrstuhl (!) bis zum Auditorium. Es sieht ein wenig aus wie Second Life. Mein Avatar im Bild oben hat eher entfernte Ähnlichkeit mit mir – mehr geben die aktuellen Optionen (noch) nicht her.
Wer mag kann sogar “sprinten” statt “gehen”, um noch rechtzeitig zu kommen. Wie im echten Leben sozusagen. Denn Punkt 18 Uhr geht es hier los:
Genau wie in einem realen Auditorium stehen uns für die Vorlesung große Medienwände zur Verfügung und die Möglichkeit, virtuell zusammenzuarbeiten. Meine Vorlesungen sind nicht (mehr) in Powerpoint gestaltet, sondern auf einem Miro-Board vorbereitet.
Das hat für mich als Dozentin den großen Charme, dass die Studierenden, die live dabei sind, direkt mitmachen und ihre Gedanken, Ideen und Fragen dort mit einbringen können. So entsteht in jeder Vorlesung ein einmaliges Skript, das für die Studierenden viele persönliche Ankerpunkte enthält, denn auch ihr eigener Input ist Teil des Downloads.
Für mich als Dozentin ist es deutlich realistischer und angenehmer, vor einem Auditorium mit Avataren zu stehen und diese zu hören, als gegen 20 oder mehr Standbilder abgeschalteter Zoom-Kameras zu sprechen.
Kameras sind noch ein gutes Stichwort: Prinzipiell kann auch die Kamera in der Vorlesung aktiviert werden, praktisch ist es aber bisher die Ausnahme.
Sind Vorlesungen anders aufgebaut als an Präsenz-Hochschulen?
Meine Vorlesungen sind deutlich interaktiver gestaltet als bei klassischen Vorlesungen an der Hochschule. Und damit meine ich nicht nur die Art des “Vortragens”. Statt statischer Skripte (oder gar Verweise auf Bücher) arbeiten wir in jeder Vorlesung gemeinsam am Skript, die Vorlesung hat also immer einen Workshop-Charakter, unabhängig von der Gruppengröße. Jeder Studierende bzw. jede Gruppe von Studierenden kann und soll ihren Teil zum Thema der Vorlesung beitragen. Das können Fragestellungen sein, eigene Erfahrungen oder das Ergebnis eines Brainstormings in der Kleingruppe.
Da die Studierenden ebenfalls am Rechner sitzen, war es für mich immer naheliegend, dass alle direkt mitmachen, recherchieren und auch vortragen. Damit vergehen die vier abendlichen Unterrichtseinheiten wie im Flug und sind immer viel zu kurz für die spannenden Seiten-Aspekte, auf die wir bei der gemeinsamen Arbeit stoßen.
Gibt es eine Anwesenheitspflicht?
Für die Studierenden: ganz klares Nein. Für mich als Dozentin: ganz klares Ja 🙂
Tatsächlich wird jede Vorlesung aufgezeichnet, so dass der einzige Nachteil an der Konservenvorlesung die fehlende Interaktionsmöglichkeit im Moment der Diskussion ist. Das klingt trivial, ist aber mit Blick auf das Lernergebnis ein sehr zentraler Punkt. Studierende, die regelmäßig live anwesend sind, haben es deutlich leichter, sich auf Prüfungen vorzubereiten und diese gut zu meistern. Und ich wage die These aufzustellen, dass sie auch signifikant mehr für ihr Berufsleben lernen als jene, die primär die Aufzeichnungen konsumieren.
In meinen Modulen ist der Anteil der live anwesenden Studierenden im Schnitt bei über 80%. Und meine anfängliche Befürchtung, irgendwann eine Vorlesung vor einem leeren Auditorium nur für die Aufzeichnung zu halten, war bisher zum Glück unbegründet.
Finden Prüfungen und Klausuren auch virtuell statt?
Klar, die finden virtuell und immer live statt. In meinen Modulen gibt es jeweils zwei praktische Prüfungen und eine mündliche. Während die praktische Prüfung den Charakter einer Präsentation zu einer gegebenen Aufgabenstellung ist, ist die mündliche Prüfung eine ganz normale mündliche Prüfung: wir treffen uns, sehen uns über die Kamera und sprechen. Da hier der Einsatz von Hilfsmitteln naturgegeben immer möglich ist, haben die mündlichen Prüfungen eher den Charakter einer Fachgesprächs zu einer realitätsnahen Aufgabenstellung im Themenbereich des Moduls.
Wer studiert der virtuellen Hochschulen?
Ich doziere in einem Master-Studiengang im Bereich Online-Marketing. Da alle Vorlesungen am Abend stattfinden, ist der Studiengang bzw. diese Hochschule vor allem für Berufstätige interessant. In meine Vorlesungen sind also Menschen, die sich im Fachbereich Marketing durch einen Master weiter qualifizieren wollen. In den Anfangsjahren des Studiengangs (ich meine es war ab 2016) waren es primär Menschen in den mittleren Berufsjahren.
Zwischenzeitlich ist ein großer Teil der Studierenden erst kurz nach dem Bachelor, also am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn. Wobei auch hier das Spektrum breit bleibt: ich bin selten die älteste Person im Raum. Und genau diese Mischung macht jede Vorlesung so spannend: der Austausch der verschiedenen Berufserfahrungen und -perspektiven bereichert den von mir vorbereiteten Inhalt immens.
Und ganz klar: ich bin in jeder Vorlesung Lehrende und Lernende gleichzeitig und dankbar für die vielen Einblick in die Marketingpraxis, oft namhafter Unternehmen durch die Studierenden.
Ein Blick über den Tellerrand zur Hochschullehre
Die Ideen und Konzepte, wie unsere Hochschulen die virtuelle Lehre bisher umsetzen, ist sehr unterschiedlich und weit entfernt von den Möglichkeiten, die uns die Technik heute bieten würde.
Während die Fernuni Hagen augenscheinlich auch heute noch ein “Selbststudium mit Zusatzmaterial” ist, haben sich bspw. die bayerischen Hochschulen zusammen organisiert und die “Virtuelle Hochschule Bayern” geschaffen. Diese bietet insbesondere für Grundlagenthemen aufgezeichnete Kurse und digitale Lerninhalte als Ergänzung zum regulären Studienangebot. Immerhin ein Anfang 🙂
In den meisten Fällen steht jedoch weiter das mediengestützte “Selbstlernen” im Fokus. Das ist gerade für Grundlagenthemen und thematische Einführungen absolut sinnvoll. Und manchmal wünschte ich mir auch, dass ich auf einem definierten Vorwissen aufsetzen kann – und dann tiefer und zielgerichteter in die echte Praxis und den damit verbundenen Wissenstransfer eintauchen kann.
Letzteres ist aus meiner Sicht mit Vorlesungen aus der Konserve nur sehr begrenzt möglich. Denn echtes Lernen klappt aus am stärksten in einem Kontext, der persönliche Relevanz hat; in dem Fragen der Ausgangspunkt für thematischen Tiefgang sind und der persönliche Austausch einen festen Anteil hat.
Die Zukunft der virtuellen Lehre wird sicher (hoffentlich) bald stärker in eine “virtuelle Welt” gehen als bisher: Durch Nutzung von Virtual und Augmented Reality liesse sich auch das Vermitteln praktischer Fertigkeiten in einem virtuellen Raum grandios gestalten….ich bin gespannt, wann diese Welt endlich Einzug hält in Studiengänge wie Medizin, Elektrotechnik und Co.
Im Augenblick beschäftigt mich genau die Frage sehr intensiv: wie können wir VR-Elemente in die Hochschullehre integrieren ohne zuerst eine “virtuelle” Uni bauen zu müssen. Wir können wir mit dem, was schon da ist einfach anfangen und Erfahrungen sammen? Wie würden sich Vorlesungen verändern, wenn wir statt in der virtuellen 2D-Welt in die immersive virtual reality wechseln würden? Wenn wir in Gruppendiskussionen das unmittelbare Gefühl der Präsenz haben…? Hier werde ich ganz sicher viel ausprobieren in den nächsten Monaten 🙂
Weiterführende Links (wer sich selbst ein Bild machen mag):
Fernuni Hagen: https://www.fernuni-hagen.de/
Virtuelle Hochschule Bayern: https://www.vhb.org/
“meine” virtuelle Hochschule ist das Management Institut der FH Burgenland (Österreich): https://aim.ac.at/